Andrea Schartner
Montessoris frühes Wirken
Themenabende mit Dr. Sabine Seichter und Dr. Jörg Boysen
Zwei Referenten betrachteten an zwei Abenden Maria Montessori aus unterschiedlichen Blickwinkeln.
Einerseits stand Maria Montessori für Frauenrechte ein und schenkte ihre ganze Aufmerksamkeit der kindlichen Entwicklung. Andererseits vermaß sie als Ärztin Körperteile, kategorisierte Menschen nach heutzutage unvorstellbaren Gesichtspunkten und biederte sich Mächtigen wie Benito Mussolini an.
Die Vorträge von Dr. Sabine Seichter, Universitätsprofessorin für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Paris-Lodron-Universität Salzburg, und Dr. Jörg Boysen, Vorsitzender des Verbandes Montessori Deutschland, schufen Raum, die unterschiedlichen Facetten Maria Montessoris einzuordnen und zu diskutieren.
Dr. Sabine Seichter verweist in ihrem Buch „Der lange Schatten Maria Montessoris“ auf eine diskussionswürdige Seite der bekannten italienischen Ärztin. Grundlage von Seichters Veröffentlichung ist das 2019 ins Deutsche übersetzte Werk „Pädagogische Anthropologie“ , das aus dem Jahr 1910 stammt. Entgegen Seichters Behauptung ist es aber kein wissenschaftliches Hauptwerk Montessoris.
Nüchtern, subjektiv und dennoch ein wichtiger Impuls
Seichters Vortrag war nüchtern. Sie ordnete ihre Fakten nicht in einen historischen Kontext ein, interpretierte mitunter subjektiv, etwa indem sie vermutete, dass Montessori ihr uneheliches Kind bestimmt für einen „Bastard“ gehalten habe. Seichter machte keinen Hehl daraus, dass sie von Reformpädagogik allgemein nicht viel hält und untermauerte ihre Ansicht mit dem Beispiel der Odenwaldschule und den dort aufgedeckten Missbrauchsskandalen.
Dennoch sind ihre Ausführungen zu Montessori wichtig. Denn Maria Montessori war – neben allem Positiven, das aus ihrer Arbeit entwachsen ist – eben auch eine Person, die wie das Gros der damaligen Allgemeinheit ein Klasse- und Rassedenken vertrat, die ihre Karriere vorantreiben wollte, ohne zunächst regimekritisch zu sein, die vom Integrativ-Gedanken und dem heutigen positiv belegten „Montessori-Hype“ teilweise weit entfernt scheint.
Sich damit auseinanderzusetzen, die Informationen in das derzeit bekannte, teilweise überhöhte Bild Maria Montessoris zu integrieren und einen sinnvollen Umgang damit zu finden, ist gewinnbringend für alle. Und so war auch die anschließende Diskussion am ersten Themenabend äußerst spannend, manchmal emotional und in jedem Fall bereichernd.
Einordnen der Fakten, Umgang mit Montessori
Eine Woche später ordnete dann Dr. Jörg Boysen in seinem Vortrag Seichters Fakten über Montessori ein, ohne deren Brisanz in Frage zu stellen. Montessori müsse man im Kontext ihrer Zeit sehen. Sie habe sich als Frau in einer patriarchalen Welt durchsetzen müssen. In ihrem Denken über die kindlichen Entwicklungs- und Bildungsmöglichkeiten sowie mit ihren feministischen Ansichten sei sie ihrer Zeit weit voraus gewesen. Bei ihren Forschungen jedoch habe sie sich an damals geltenden Begrifflichkeiten und Denkmustern orientiert und diese nicht hinterfragt.
„In Maria Montessoris früher Arbeit als Ärztin und Anthropologin zeigte sie großes Engagement für die Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen, allerdings eingebettet in ein von Rassismus, Klassendenken und der Angst vor gesellschaftlicher Degeneration geprägtes kulturelles Umfeld. So nutzte sie damals gängige rassistische und verachtende Begrifflichkeiten, in der Menschen aufgrund von Herkunft, Aussehen und Fähigkeiten kategorisiert wurden.“
Zu der Diskussion um den Inklusion sagte Boysen: „Montessori wird manchmal vorgeworfen, sie hätte zeitweise dafür plädiert, Kinder und Jugendliche mit Behinderungen getrennt zu beschulen von Kindern ohne Beeinträchtigungen, sei also gegen eine "Inklusion" gewesen. Inklusion setzt aber ein pädagogisches Konzept voraus, (..,) ein Begriff und ein Konzept, die es damals nicht gab. Montessori forderte, dass sie überhaupt beschult werden.“
Dr. Boysen zeichnete das Bild einer menschlichen und warmherzigen Frau, deren Passionen die kindliche Entwicklung und die Friedensbildung waren.
Wichtige Auseinandersetzung
Die anschließende Diskussion machte deutlich, wie gewinnbringend es ist, sich auch mit dem „Schatten“ Montessoris auseinanderzusetzen und dennoch die vielen positiven Gesichtspunkte zu sehen, die ihre Pädagogik hervorbegebracht hat. Dr. Seichters Darstellungen eine Woche zuvor wirkten zwar provokant, setzten jedoch neue Impulse und komplettierten das Bild Maria Montessoris.
Ein Blick auf die Landschaft der Montessori-Einrichtungen in Deutschland zeigt ihre Verschiedenheit. Während an vielen Einrichtungen eine auf das Kind ausgerichtete, moderne Pädagogik mit gut ausgebildeten Fachkräften zu finden ist, gibt es an anderen Stellen beispielsweise auch den Vorwurf der Unterwanderung durch sektenartige Gemeinschaften. Der Verband Montessori Deutschland setzt sich derzeit mit Montessoris Wirken während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland auseinander, auch wenn bekannt ist, dass ihre Pädagogik nicht erwünscht war und viele Montessori-Einrichtungen damals geschlossen werden mussten.
Das positive Erbe dieser facettenreichen Frau zukunftstauglich zu machen, ihre dunklen Seiten zu integrieren, sind die derzeitigen Aufgaben, vor denen Montessori-Fachleute und Interessierte stehen.